Aryna Sabalenka: Service für's Service
Lange Jahre galt der mächtige Aufschlag als gefürchtetste Waffe im Spiel von Aryna Sabalenka - bis er plötzlich nicht mehr kam. In einem leidvollen, nicht enden wollenden Kampf mit sich selbst erwiesen sich zwei ungewöhnlichen Entscheidungen als höchst effektiv, wie der erste Grand-Slam-Titel der Weißrussin bei den Australian Open belegt.
Selbstanalyse als Erfolgsschlüssel
In der Vorbereitungsphase zur neuen Saison hatte Aryna Sabalenka eine wichtige Entscheidung getroffen. „Ich habe aufgehört, mit einem Psychologen zu arbeiten, nachdem ich eingesehen hatte, dass niemand mir helfen kann, außer ich selbst. Ich bin jetzt meine eigene Psychologin", erklärte die Belarussin nach ihrem Semifinalsieg bei den Australian Open über die Polin Magda Linette.
Wörtlich sollte man Sabalenkas Aussage nicht nehmen, verstößt sie doch gegen den heiligen Grundsatz der Psychotherapie: Analysiere dich niemals selbst. Die Verantwortung dafür zu übernehmen, ihr Spiel eigenhändig wieder in den Griff zu bekommen, hatte allerdings schon in Melbourne spektakuläre Auswirkungen.
Rücktrittsangebote abgelehnt
Hinsichtlich der Flut an Sportpsychologen in den Umkleidekabinen auf der WTA-Tour ist Sabalenkas nach einem Dreisatz-Finalerfolg über Wimbledonsiegerin Elena Rybakina errungener Triumph beim ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres umso beeindruckender. Vor zwölf Monaten schienen die schwerwiegenden Probleme der Weltranglistenzweiten beinahe unlösbar zu sein. Aber wie es ihr Coach Jason Stacy ausdrückte, stellte sie sich nach langem Zögern ihrer Angst und ging Kopf voraus gerade durch die Wand.
Sabalenka schwimmt ohnehin gerne gegen den Strom. Während viele Sportler in einem immer schnelllebigeren Geschäft nach dem unmittelbaren Erfolg suchen, so hielt die 24-Jährige trotz massiver Formkrise an ihrem Betreuerstab fest und weigerte sich selbst am Tiefpunkt ihres Schaffens, das kollektive Rücktrittsgesuch ihrer Angestellten zu akzeptieren.
Herausragende Tennisspielerin
Ihr persönliches Leiden nahm zu Beginn in Australien eine radikale Wendung und entwickelte sich zu einer inspirierenden Erzählung vom Sieg über wiederholt enttäuschte Erwartungen, Selbstzweifel und sogar Furcht vor öffentlicher Erniedrigung. Diese Sorgen lagen vor allem darin begründet, dass Sabalenka in allen Alterskategorien stets herausgeragt hatte.
Mit ihren 1,82 Metern ist sie auf der WTA-Tour nicht zwar unbedingt ein Sonderfall. Dennoch haftet ihr bei mehreren Labels die Größe XL an: XL-Aufschlag, XL-Vorhand, XL-Physis, XL-Stöhnen, XL-Persönlichkeit. Nur ihr Selbstvertrauen kam im besten Fall auf ein M.
Mit Yips-Phänomen infiziert
Zu Beginn der Saison 2022 schien die harte Selbsteinschätzung fast gerechtfertigt. Plötzlich war sie von einem im Spitzensport gefürchteten Virus befallen: dem sogenannten Yips-Phänomen, einem nicht ungewöhnlichen Leistungskiller. Im Jahr davor hatte Sabalenka mit zwei Grand-Slam-Semifinals noch als Topanwärterin auf die ganz großen Titel gegolten. Die Hoffnungen zerschlugen sich aber, als ihr brachialer Aufschlag plötzlich eine derartige Ladehemmung aufwies, dass sie selbst von einer Brücke über dem Melbourner Yarra River das Wasser nicht getroffen hätte.
Rückblende: In ihren ersten beiden - verlorenen - Matches 2022 in Adelaide hatte die in Miami lebende Minskerin ganze 39 Doppelfehler serviert. Und auch wenn sie im Anschluss drei Runden bei den Australian Open überstand, schmerzte allein schon der Anblick ihrer erbärmlich wirkenden Spieleröffnung.
Grottenschlechte Quote
Die Zahlen drücken auch die mentale Verfassung der „Double-Fault Queen" aus, wie sie sich selbst in einem Anfall von Selbstironie bezeichnete. Zwischendurch servierte Sabalenka großartig, die dunklen Schatten holten sie aber immer wieder ein. Und je enger sich das Match gestaltete, desto mehr Druck verspürte sie.
Ratlose Coaches
Nach einer Viertelfinal-Niederlage in Doha fing zweiter Coach Anton Dubrov, an seinen eigenen Fähigkeiten zu zweifeln. „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich glaube, dass du dir jemand anderen suchen musst, der dir tatsächlich helfen kann." Sabalenka wollte davon nichts wissen. „Mir war klar, dass es nicht an ihm liegt. Es ging allein um mich. Ich musste dem Problem nur auf den Grund gehen", verriet die Rechtshänderin mit dem auffälligen Tiger-Tattoo am Unterarm im Rahmen des Happy Slams.
Und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen - eine bei kriselnden Sportlern nur selten erfolgsversprechende Strategie - zahlte sich in diesem Fall aus. Die Betreuer ließen all ihre Kontakte spielen und fanden letztlich einen Biomechaniker, der unter der Bedingung einwilligte, mit Sabalenka zu arbeiten, sofern sie sich zu einer umfassenden und schonungslosen Detailanalyse ihres Aufschlags bereit erklären würde.
Panik, Leugnung, Hilfeschrei
Yips-Phänomene zu überwinden ist in der Regel ein kniffliges Unterfangen, weil man die technischen Ursachen solcher Leistungskiller nur sehr schwer identifizieren kann, etwa eine Putting-Schwäche beim Golf. Während dieser Yips-Phasen, die häufig kommen und gehen, verfallen Spieler oft in Panik oder verleugnen schlicht das Problem.
„Als es letztes Jahr anfing, ging der ganze Bewegungsablauf beim Service verloren", erinnert sich Dubrov. „Aryna hatte aber Angst, das Thema nur anzusprechen." Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem die zwölffache Turniergewinnerin am WTA-Circuit laut schrie: „Bitte hilf mir jemand, diesen verdammten Aufschlag wieder zu reparieren."
Gesamtes Spiel stabilisiert
Jason Stacy teilte die Ansicht seines Trainerkollegen. Der einzige Weg, das Problem zu lösen, sei, es zu entmystifizieren und empirisch aufzuzeigen, warum die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten sind.
Rückblickend zeigt sich Sabalenka glücklich und erleichtert, die ganze Tortur überstanden zu haben. Ihre wiedergefundene Gelassenheit würde sie jetzt umso mehr zu schätzen wissen. Eigentlich seit jeher für ihre emotionale Sprunghaftigkeit bekannt, die sich mit dem explosiven, unbekümmerten Charakter ihres Spiels paart, trat sie beim diesjährigen Australian Swing wesentlich stabiler auf als im gesamten Jahr 2022.
Innere Ruhe zurückgekehrt
„Ich habe drei Grand-Slam-Semifinals verloren, weil ich nie wirklich die Ruhe auf dem Platz bewahren konnte", so Sabalenka.
Mit ihrer Selbsteinschätzung dürfte Sabalenka ziemlich richtig liegen. Jedenfalls sollte die im Tennisjahr 2023 in elf Matches noch unbesiegte Melbourne-Championesse als Beispiel dienen, warum Ursache und Lösung individueller Probleme durchaus vom Betroffenen selbst identifiziert werden können.