On-Court-Coaching: Grauzonen eliminiert
Unter Einhaltung bestimmter Richtlinien dürfen Betreuer ihren Schützlingen seit dem Sommer auch während der Matches Anweisungen geben. Für alle Beteiligten herrscht nun mehr Klarheit am Platz. Der Spielfluss scheint kaum gestört zu sein, Puristen und Reformer zeigen sich gleichermaßen zufrieden - vorläufig, denn auch die neue Regel bietet viel Raum für Interpretationen.
Regeländerung schlägt keine Wellen
Im letzten Sommer begann eine neue Ära im Tennis, was an den meisten Zuschauern allerdings vermutlich vorbeigegangen war - es sei denn, sie hatten die Lautstärke ihrer Fernsehgerät auf das Maximum gedreht. Denn bei ganz genauem Hinhören hätte man vor Rafael Nadals Auftaktmatch beim Masters in Cincinnati vernehmen können, wie der seit 18 Jahren auf der Tour spielende Veteran den Stuhlschiedsrichter fragte, ob Coaching denn nun erlaubt sei.
Beim selben Turnier sollte Apostolos Tsitsipas seinem Sohn Stefanos im Semifinale-Duell mit Daniil Medvedev offen Anweisungen von der Spielerbox aus geben. Beim vorangegangenen Aufeinandertreffen zwischen den beiden Erzrivalen sieben Monate zuvor in Australien hatten die heimlich geflüsterten Ratschläge von Apostolos das russische Enfant terrible noch zur Weißglut gebracht. In Ohio konnte Medvedev aber nichts dagegen einwenden oder unternehmen. Im Januar war Coaching verboten, im August nicht.
WTA lässt Coaching schon länger zu
Die Epoche des On-Court-Coaching war offiziell eingeläutet. Dabei hatte diese Praxis lange Zeit den Regeln widersprochen. Vielmehr herrschte das strikte Dogma des Individualsports vor, dass die Profis selbst dafür verantwortlich seien, spielerische, taktische und mentale Lösungen während der Matches zu finden.
Schon vor einem Jahrzehnt hatte die Damen-Tour WTA den Coaches erlaubt, Spielerinnen einmal pro Satz in den Wechselpausen Inputs zu vermitteln. Nach dem diesjährigen Wimbledon-Turnier traten aber auch bei der ATP eine ganze Reihe an Regeln in Kraft, die es den Betreuern ermöglicht, dezent Anweisungen zu geben oder unauffällige Handzeichen zu verwenden. So muss sich zum Beispiel der Spieler während des Coachings auf der selben Platzseite befinden wie der Trainer, nur kurze Bemerkungen sind erlaubt, jedoch kein verbaler Austausch.
Reform kaum wahrnehmbar
Als erstes Grand-Slam-Event gingen die US Open unter den adaptierten Bestimmungen in Szene, Widerstände und Diskussionen über das lange Zeit so strittige Thema hielten sich erstaunlicherweise in Grenzen. Dass die Betreuer ihre Schützlinge während der Matches anfeuern, war hinlänglich bekannt. In New York bekam man nun auch im Ansatz mit, was die Coaches ihren Spielern verbal mitgaben. Einprägsam waren die wenigsten Anweisungen.
Aber was war aus dem ursprünglichen Ansatz geworden, dass die Protagonisten am Platz allein zurecht kommen müssten? Im Gegensatz dazu, was man den Fans weiszumachen versuchte, hat es schon immer Coaching im Tennis gegeben - nicht nur im Davis Cup oder Billie Jean King Cup. In den USA etwa werden die Spieler auch bei Schul- und College-Meisterschaften taktisch beraten. Und das junge, höchst erfolgreiche Format Laver Cup lebt teilweise davon, wie sich die Stars während der Partien gegenseitig Tipps geben.
Doch die Grundidee, dass Tennisspieler Einzelkämpfer sind, die während des Matches ihre Taktik anpassen und selbst Umstellungen vornehmen müssen, ohne einem programmierten Ablauf eines Einflüsterers zu folgen, hat etwas für sich. Das Tennis würde sich wesentlich verändern, wenn ein Coach jeden Aufschlag, jede Vorhand, jeden Volley kommentierend analysiert und ständig irgendwelche komplexe Handzeichen von der Seite gibt.
Zufriedenstellender Kompromiss
Auch unter den Profis gehen die Meinungen zum Thema auseinander. Befürworter der Regel meinen, es werde ohnehin gecoacht. Gegner führen wiederum einerseits das Einzelkämpfer-Argument ins Treffen, und sehen zum anderen weniger etablierte Profis benachteiligt, die nicht zu jedem Turnier ihre Trainer mitnehmen können. Der nun gefundene, vielleicht etwas dumpfe Zugang mit seiner durchaus schwammigen Definition scheint sowohl Reformer als auch Puristen zu besänftigen.
In welche Richtung sich die neuen Regeln entwickeln, lässt sich nicht eindeutig vorhersagen. Bei den US Open war jedenfalls zu erkennen, dass klarere Grenzen gezogen wurden, ohne den Charakter eines Matchprozesses wirklich zu verändern. Vor allem nahmen die gelegentlichen Anweisungen von Coach Juan Carlos Ferrero an den späteren Champion Carlos Alcaraz aber nichts von der in New York ausgeübten Strahlkraft des jungen Spaniers weg.