Charisma-Boost: Die ATP-Tour wird emotionaler

tobi-redaktionTobi
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Immer mehr Tennisprofis pfeifen am Court auf Verhaltensvorschriften und lassen sich zu erfrischenden Gefühlsausbrüchen hinreißen. Der Trend zu Show und Eskapaden wird vor allem von der jüngeren Generation positiv aufgenommen, lastet dem Sport doch ein verstaubtes Image an, geprägt von Etiketten und Traditionen.

Zu viele Förmlichkeiten nicht zeitgemäß

sascha-zverev

Zverev steht für eine neue, emotionale Spielergeneration.

Während Novak Djoković Schläger ähnlich oft zerschellt wie Rekorde, so lassen junge, teils ungestüme Hotshots wie Alexander Zverev, Stefanos Tsitsipas oder Daniil Medvedev ihren Emotionen auf dem Platz gerne freien Lauf.

Dem Welttennis mangelt es derzeit nicht an sogenannten Typen, jenen Spielerpersönlichkeiten mit ebenso schwer zu definierenden wie von Fans geforderten Eigenschaften. Nach der dem Sport jahrelang aufoktroyierten inneren Ruhe zum Höhepunkt der Federer-Nadal-Ära sind nun ausdrucksstarkes Verhalten und totale Offenheit en vogue, Gefühlsausbrüche in, Förmlichkeiten out.

Turbulente letzte Monate

Die junge Generation zeigt sich emotional transparenter", konstatiert Djoković eine deutliche Zunahme an Akteuren mit Profil und Charisma. „Ich schätze es, wenn die menschliche Seite des Tennissports zum Vorschein kommt." Zuletzt wurden tatsächlich immer mehr expressive, wütende Spieler auf den Tennisplätzen beobachtet. Der Djoker selbst läutete in seinem Australian-Open-Clash mit Zverev diesen Trend mit einer bemerkenswerten Darbietung im Schläger-Zerhacken ein.

„Die junge Generation zeigt sich emotional transparenter."
– Djoković über den neuen Trend im Tennissport, Gefühle zu zeigen.

Einige Wochen später rastete der politische Tennisaktivist Vasek Pospisil während einer Wechselpause in Miami mit einer furiosen Schimpftirade gegen ATP-Chef Andrea Gaudenzi völlig aus. Der ehemalige Top-20-Mann Damir Džumhur wurde bei einem Quali-Match in Acapulco nach angeblichen Morddrohungen gegen den Schiedsrichter gar aus dem Turnier geworfen. Der französische Reibebaum Benoît Paire beklagte wiederum in Monte Carlo die strengen Covid-Schutzmaßnahmen auf der Tour, verglich den Country Club des Fürstentums mit einem Friedhof und erklärte vor Journalisten, es sei ihm egal, ob er gewinnt oder verliert.


Auf Twitter entschuldigte sich Pospisil für seinen Wutausbruch in Miami.

Nur vier Disqualifikationen in einer Dekade

Insgesamt war es in den letzten zehn Jahren lediglich zu vier Disqualifikationen in Hauptbewerben der ATP-Tour gekommen. Zwei der Betroffenen, Novak Djoković und Fabio Fognini, widerfuhr dieses Schicksal in den jüngsten Monaten. Die beiden Vorfälle sind keineswegs repräsentativ für das gesamte Herrentennis, dennoch unterstreichen sie die steigende Bereitschaft der Protagonisten, ihren Emotionen Luft zu verschaffen.

Ein Viertelfinale der US Open ohne Feder, Nadal und Djokovic, das gab es seit 16 Jahren nicht mehr: Der Serbe wurde 2020 disqualifiziert, weil er eine Linienrichterin mit dem Ball getroffen hatte.


Diese Entwicklung wird vor allem von jenen begrüßt, die dem Tennis ein verstaubtes Image und ein Defizit an „Coolness" attestieren, weil man zu sehr traditionelle Werte und einen Sportgeist alter Schule hervorhebt, gleichzeitig aber auf die Show vergisst.

Ventil für Stress und Druck

Patrick Mouratoglou, Coach von Serena Williams, beklagt regelmäßig, dass sich Tennisspieler immer mehr zu unaufdringlichen, roboterartigen Karrieristen entwickeln, die sich durch die strengen Verhaltensregeln der ATP gezwungen sehen, ihre Gefühle am Platz zu unterdrücken, Kontroversen zu vermeiden und so wenig wie möglich von ihrem wahren Ich preiszugeben.

David Goffin glaubt allerdings, eine Zeitenwende zu erkennen:

„Das Niveau ist derzeit so hoch, dass du die Spannung, die Frustration und den Druck in dir einfach ventilieren musst. Einmal muss ein Schläger dran glauben, dann ist es ein Schimpfwort oder irgendetwas anderes."

Der permanente Stress hänge aber durchaus auch mit der Pandemie zusammen, vermutet Sascha Zverev. „Die Turnierblasen machen etwas mit uns", gesteht die deutsche Nummer eins.

„Seit neun Monaten bewegen wir uns in diesen Bubbles und ein Ende ist nicht wirklich in Sicht."
– Die Pandemie trägt ihr Schäuflein zur aktuellen Entwicklung bei, ist sich Zverev gewiss.

Gesellschaft durch Pandemie nachsichtiger

Die ehemalige Spitzenspielerin Pam Shriver ortet auch mehr Toleranz seitens der Offiziellen bei emotionalen Ausbrüchen der Spieler. „Die Pandemie hat uns alle betroffen. Die Leute sind allgemein empathischer geworden und verzeihen in allen Lebensbereichen ein bisschen mehr."

novak djokovic

Auch Novak Djokovic ist bekannt dafür, seinen Emotionen gelegentlich freien Lauf zu lassen.

Allein dem Virus die Häufung an expressiven Auftritten zuzuschreiben, wäre wohl zu kurz gegriffen. Der Widerstand gegen ausufernde Verhaltensvorschriften nahm in den letzten Jahren stetig zu, Djoković schlüpfte immer mehr die Rolle des Widerstandskämpfers. Der viel Leidenschaft auf den Platz bringende Serbe zeigt sich stets bereit, Risiken zu nehmen, Grenzen auszureizen, Kritik einzustecken und dann nach vorne zu blicken. Sein Einfluss auf die jüngere Generation wird in der Öffentlichkeit gerne unterschätzt.

McEnroe und Co. lassen grüßen

Einfluss übte er auch auf Daniil Medvedev aus, der sich bei den US Open 2019 nicht nur mit seinem Finaleinzug erstmals groß in Szene setzte, sondern auch, weil er sich mit dem kritischen New Yorker Publikum anlegte. Nach der Drittrundenpartie gegen Feliciano López streute der Russe im Post-Match-Interview zusätzlich Salz in die Wunde, indem er hämisch von der „Energie" sprach, die er von den Zuschauer-Anfeindungen zog.

Der größte Exzentriker am Circuit ist zweifelsohne Nick Kyrgios, der im Laufe seiner Karriere in mehr persönliche Konflikten verwickelt war als jeder andere Profi seit Ilie Năstase vor einem halben Jahrhundert. Weil der Australier jedoch nicht annähernd jene Erfolge vorzuweisen hat wie einst der so polarisierende Rumäne oder irgendein anderer Spieler aus der „Bad Boy Hall of Shame", erfahren seine Ausbrüche auch nicht dieselbe mediale Aufmerksamkeit. „McEnroe, Connors und Năstase faszinierten nicht nur wegen ihrer Wutanfälle", erinnert Shriver. „Es war diese Kombination aus den Weltranglisten-Platzierungen und ihrer Persönlichkeiten."

Videodokument: John McEnroe's legendärer Ausraster in Wimbledon 1981.

Djoković oft im medialen Fokus

Just Djoković war im letzten Jahr in der Öffentlichkeit stark geprügelt worden. Nach dem Kollaps einer von ihm organisierten Serie an Einladungsturnieren im Frühling 2020, bei der so ziemlich jedes Covid-Protokoll gebrochen worden war, infizierten sich gleich mehrere Spieler, einschließlich er selbst, mit dem Coronavirus.

Bei der Wiederaufnahme der ATP-Tour im Herbst 2020 startete der Weltranglistenerste dann als haushoher Favorit in die US Open, wurde im Achtelfinale aber disqualifiziert, weil er in einem unbeherrschten Moment eine Linienrichterin mit dem Ball als Hals traf. Auch die Gründung einer neuen Spielergewerkschaft, bei der er sich uneigennützig für schlechter platzierte Profis engagieren will, kam nicht bei allen Kollegen gut an.

Wenn ich am Platz stehe, durchlebe ich viele Facetten von Gefühlen in mir", sagt Djoković, der inzwischen gelernt hat, sein feuriges Temperament einfach zu akzeptieren. „Das Spiel ist sehr dynamisch und am Platz bist du ganz alleine. Es lastet also sehr viel Gewicht auf deinen Schultern. Manchmal explodierst du. Genau das ist in New York passiert. Ich bin nicht unbedingt stolz drauf." Der 19-fache Grand-Slam-Champion ist sich dessen bewusst, dass seine Selbstbeherrschung starken Schwankungen ausgesetzt ist, glaubt aber auch, zu sich selbst sehr hart zu sein.

„Manchmal explodierst du."
– Djoković zum Vorfall bei den US Open.

Saftige Strafen für ungebührliches Verhalten

Weniger im Scheinwerferlicht stehende Spieler haben weit profanere Sorgen als die Auswirkung ihrer emotionalen Ausbrüche auf ihr Image oder Vermächtnis. „Man sollte seinen Schläger am Court kaputtmachen dürfen, ohne am nächsten Tag über eine 20.000-Dollar-Strafe nachdenken zu müssen", meint zum Beispiel US-Riese Taylor Fritz.

„Die Leute wollen so etwas ja sogar sehen."
– Für Taylor Fritz sind Ausraster part of the game.

Und sie haben in jüngster Zeit unzählige solcher oder ähnlicher Szenen beobachten können. „Gefühle zu zeigen, ist gut für den Sport", meint auch Zverev. Nach seinem Achtelfinal-Out gegen Goffin zu Beginn der Sandplatz-Saison in Monte Carlo gab der Hamburger dem Belgier artig die Hand, ehe er sein Racket einem massiven Materialtest unterzog.

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Autor: Tobi
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