Emma Raducanu: Bricht im Damentennis eine neue Ära an?
Mit ihrem märchenhaften Sturmlauf auf den US-Open-Thron bot die blutjunge, aber taktisch ausgereifte Qualifikantin Emma Raducanu eine erfrischende Abkehr vom eindimensionalen Powertennis. Auf eine Zeitenwende bei den Damen lässt auch ihre spielerisch so raffinierte und nur wenige Wochen ältere Finalgegnerin Leylah Fernandez hoffen.
Dunkle Wolken vor US-Open-Start
Wenige Tage vor dem US Open fragte sich die Tennisszene, ob der Einzelbewerb der Damen in diesem Jahr überhaupt einen Reiz entwickeln könnte. Sowohl Venus als auch Serena Williams hatten ihre Nennungen verletzungsbedingt zurückgezogen, Letztere noch immer auf der Jagd nach dem 24. Grand-Slam-Titel.
Dann musste auch noch mit Sofia Kenin, als Nummer sechs der Welt beste Amerikanerinnen im WTA-Ranking, eine weitere Lokalmatadorin absagen. Sie hatte sich trotz Impfung mit dem Coronavirus infiziert.
I plan to spend the next several weeks getting healthy and preparing to play well this fall. Thank you all for supporting me. I want to wish all the players the best of luck in New York. 2/2
- Sofia Kenin (@SofiaKenin) August 26, 2021
Die Absage von Sofia Kenin ereilte Fans unter anderem via Twitter.
Und was schlecht anfing, wurde schlimmer. Jennifer Brady, nächstbestes US-Girl in der Weltrangliste, konnte ebenfalls nicht antreten, ihre Landsfrauen Madison Keys und Sloane Stephens, Finalistinnen 2017, wurden in Runde eins gegeneinander gelost.
Feuerwerk zweier Sensationsfinalistinnen
Die Bad News nahmen in der ersten Turnierwoche ihren Lauf: So scheiterten mit der topgesetzten Ashleigh Barty und der Nummer drei Naomi Ōsaka zwei internationale Ticketseller in Runde drei, die Japanerin in einer dramatischen Darbietung launenhaften Unbehagens. Die emotional angeschlagene Titelverteidigerin verließ Flushing Meadows unter Tränen und erklärte, sich eine Pause vom Tennis auf unbestimmte Zeit nehmen zu wollen.
Zehn Matches ohne Satzverlust zum Titel
Inklusive Qualifikation musste Raducanu zehn Matches bis zum US-Open-Titel bestreiten, keinen einzigen Satz gab die körperlich so robuste Rechtshänderin dabei ab. Angesichts des in den letzten zwei Jahrzehnten vorgeherrschten, eher eindimensionalen Powertennis auf der Damenseite kann man die Spielanlage der ersten britischen Major-Gewinnerin seit dem Wimbledon-Sieg von Virginia Wade vor 44 Jahren, als durchaus klassisch bezeichnen.
Raducanu posiert für die Fotografen mit ihrer Trophäe.
Raducanu schwebt förmlich geschmeidig über den Court und generiert durch ihre frühe Ballannahme und einem exzellenten Timing erstaunlichen Druck. Flink auf den Beinen, versteht sie es, Bälle auszugraben, die von ihrer Kontrahentin längst als Winner wahrgenommen werden. Was sie aber von anderen mit einem ruhigen Schwung ausgestatteten Grundlinien-Spielerinnen unterscheidet, ist die nicht nachlassende Aggressivität.
Auch Fernandez mit Starpotenzial
Doch auch Finalgegnerin Fernandez, die davor sechs Monate lang keine zwei Matches in Serie gewonnen hatte, hebt sich mit ihrer Schnelligkeit und dem überaus facettenreichen Spielwitz vom modernen, von Kraft geprägten Damentennis erfrischend ab. Nur 1,68 Meter misst die Kanadierin, strotz aber vor dem im intensiv-psychologischen Tennisbusiness so wichtigen Mumm.
Ihren Größennachteil kompensierte die Tochter einer Philippinerin und eines Ecuadorianers mit verblüffender Beinarbeit, einem tiefen Schwerpunkt und einem Linkshänder-Aufschlag in allen nur denkbaren Schnittvarianten.
14 Major-Gewinnerinnen in fünf Jahren
Letztlich stellte sich das US Open trotz aller anfänglicher Skepsis also tatsächlich als außergewöhnlich heraus. „Das Turnier spiegelt das aktuelle Niveau des Damentennis und die Breite des Feldes wider", konstatierte Raducanu im Anschluss. Ein Blick auf die Statistik unterstreicht diese Aussage: Die Rechtsauslegerin, am Montag nach dem Finale in der Weltrangliste um 127 Plätze auf Position 23 vorgespült, ist die 14. unterschiedliche Grand-Slam-Siegerin seit 2017.
– Emma Raducanu über die US Open 2021.
Der historische Triumph von New York stellte für die furchtlose Rampenlicht-Novizin, die schon bei ihrem premieren Major-Auftritt in Wimbledon erst im Achtelfinale von Atemproblemen gestoppt wurde, die krönende Abrundung zweier lebensverändernder Monate dar.
An English Girl in New York
Nachdem sie sich ein paar Tage Erholung abseits des Courts im Big Apple gönnte, u.a. die glamouröse Met Gala und zahlreiche US-Fernsehshows besuchte, scheint die in Kanada geborene und im Alter von zwei Jahren nach England gezogene Tochter einer Chinesin und eines Rumänen wieder bereit zu sein, auf den Trainingsplatz zurückzukehren.
about last night…🖤🤍 #themet pic.twitter.com/fPEpUYYKWM
- Emma Raducanu (@EmmaRaducanu) September 14, 2021
Thanks for having me this morning, @GMA ✨ pic.twitter.com/cknQApQITH
- Emma Raducanu (@EmmaRaducanu) September 13, 2021
Raducanu bei der Met Gala und bei „Good Morning America".
„Nach den US Open wollte ich das Tennis eine zeitlang komplett ausblenden. Diese drei Wochen waren einfach wahnsinnig intensiv", wird Raducanu auf der offiziellen Website der Spielerinnenvereinigung WTA zitiert. „Jetzt werde ich mit dem Training beginnen, bin mir aber nicht sicher, wann ich wieder ins Turniergeschehen einsteige."
Tour-Rückkehr wohl in Indian Wells
Den genauen Zeitpunkt lässt sich Raducanu demnach offen. Ursprünglich hatte sie für die Qualifikation zum WTA-Turnier in Chicago genannt, doch dürfte sich ihr Comeback bis zum vom Frühling in den Oktober verlegten Wüstenklassiker von Indian Wells verzögern. Und eine Wildcard werden die Veranstalter des 1000er-Events dem inzwischen nach London heimgekehrten Shootingstar wohl kaum verwehren.