Jannik Sinner: Der vierte Mann im Kreis der Big Four
Novak Djokovic, Carlos Alcaraz und Daniil Medvedev gelten als die dominierenden Erscheinungen im aktuellen Herrentennis. Mit verblüffender Konstanz scheint nun Jannik Sinner in diesen elitären Kreis einzubrechen. Um endgültig eine neue Ära der Big Four in veränderter Besetzung einzuläuten, fehlt dem Südtiroler nur noch ein Grand-Slam-Sieg. Ist es 2024 so weit?
Umetikettierung der Big Three
Fast zwei Jahrzehnte lang prägten Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic die Ära der Big Three des Tennissports. In den Hochzeiten von Andy Murray wurde dieser elitäre Kreis um den schottischen Wimbledon-Champion und Olympiasieger erweitert und als Big Four etikettiert.
Das Label wird auch nach dem Ende dieser Ära verwendet, nur mit teils anderen Personen. Djokovic wird nach seinem 24. Grand-Slam-Titel weitgehend in der lange Jahre emotional geführten G.O.A.T.-Debatte endgültig als Größter aller Zeiten wahrgenommen, mit dem kometenhaft aufgestiegenen Carlos Alcaraz und dem konstant kletternden Daniil Medvedev bildet der unverwüstliche Evergreen das neue Supertrio am Herren-Circuit.
Jeder Schritt führt nach vorne
Allerdings sollte auch heute dieses Top-Gespann auf vier Protagonisten ausgedehnt werden. Immerhin hat sich Jannik Sinner seinen Platz in dieser Runde hart erkämpft, selbst wenn ihm in seiner Vita noch ein Major-Triumph fehlt.
Zugetraut wird es ihm allemal. Von der Next Gen redet indes kaum noch jemand. So gelten Alexander Zverev, Stefanos Tsitsipas, Andrey Rublev, Matteo Berrettini und Taylor Fritz inzwischen als Lost Generation, für die sich das Championship Window langsam, aber sicher schließt. Jüngere Hoffnungsträger wie Holger Rune und Ben Shelton fielen in diesem Jahr wiederum durch starke Leistungsschwankungen auf.
Erstes Ausrufezeichen in Paris 2020
So feierte Sinner nur einen Monat nach seinem 19. Geburtstag mit dem Achtelfinal-Erfolg über Sascha Zverev in Roland-Garros 2020 seinen ersten Sieg über einen Top-10-Mann und avancierte bei diesem French-Open-Debüt gleichzeitig zum jüngsten Viertelfinalisten in Paris seit Rafael Nadal 2005.
Die damalige Nummer 75 der Welt scheiterte im Anschluss just an den mallorquinischen Sandplatzkönig, ortete nach der Niederlage aber in erster Linie Raum für Verbesserungen. „Ich sehe mir nicht die Rekorde der Gegner an", sagte Sinner nach dem 6:7 (4), 4:6, 1:6. „Letztlich willst du ja in jedem Match gut spielen und versuchen zu gewinnen."
Unbändiger Siegeswille
Als Mangel an Respekt wollte er diesen Zugang nicht verstanden wissen. Dennoch zeigte er sich nach Niederlagen stets enttäuscht.
An der Einstellung hat sich auch drei Jahre später wenig bis nichts geändert. Sinner, der 2019 bei den NextGen-Finals triumphiert hatte, strebt immer und überall danach, sein bestes Level abrufen, hat einen schier unersättlichen Erfolgshunger und wartet weiter auf seine große Chance bei einem Grand Slam.
Positive Bilanz gegen Alcaraz
In der Vergangenheit wegen scheinbarer körperlicher Defizite in langen Matches oft unterschätzt, hat die fantastische Saison 2023 des Wahlmonegassen aber nun auch die größten Skeptiker überzeugt. So vermag es Sinner, der über die vielleicht extremste Topspin-Rückhand im Herrentennis verfügt, regelmäßig den so spektakulär agierenden Carlos Alcaraz zu ärgern. In der für viele Beobachter spannendsten Rivalität der kommenden Jahre führt der Mann aus Innichen das Head-to-Head mit vier Siegen bei drei Niederlagen an.
„Ich finde es schwierig, über diese Rivalität zu sprechen", übt sich Sinner einmal mehr im Understatement.
2023 schon jetzt besser als 2022
Neben der positiven Bilanz gegen Alcaraz, mit dem er bei Turnieren häufig auf dem Trainingsplatz anzutreffen ist, hat Sinner weitere Meilensteine seit dem Sommer gesetzt. Freilich gehen diese Errungenschaften im Vergleich zu jenen des zwei Jahre jüngeren und noch erfolgreicheren Spaniers ein wenig unter, dennoch sind sie beachtlich.
Seit Montag wird Sinner, der bis zu seinem 13. Lebensjahr im alpinen Nachwuchskader seines Landes stand, zudem vom ATP-Computer auf Position vier geführt, das beste Ranking eines Italieners seit Adriano Panatta 1976 - vor mehr als 47 Jahren.
Medvedev-Trauma beendet
Ganz seinem Charakter entsprechend drückt „The Fox", wie der Rechtsausleger von seinen Kollegen auf der Tour genannt wird, aber auf die Euphoriebremse und richtet lieber seinen Blick nach vorne. Immerhin will er auch bei den Majors seine Spuren hinterlassen.
„Das Ranking bedeutet mir sehr viel", sagte er nach seinem Finaltriumph in Peking über den bis dahin für ihn in sechs Matches unüberwindbaren Daniil Medvedev. „Mein Team und ich trainieren sehr hart und wir haben natürlich auch eine hohe Erwartungshaltung. Die Arbeit macht nach so einer Woche aber mehr Spaß, weil man sich schließlich ständig verbessern will."
Noch unerschöpftes Potenzial
Die gute Weltranglistenposition sei aber nur eine Begleiterscheinung. „Für mich hat sie aktuell wenig Bedeutung. Ich weiß, dass noch viel unerschöpftes Potenzial in mir steckt. Klar bin ich in meiner jetzigen Lage glücklich - es gibt aber noch ein paar Plätze vor mir."
Die Jagd setzt Jannik Sinner, der sein Ticket für die ATP Finals in Turin bereits in der Tasche hat, am Dienstag fort: Im Achtelfinale des ATP1000-Turniers in Shanghai bekommt er es mit dem amerikanischen Shootingstar Ben Shelton zu tun.