Ons Jabeur: Reine Kopfsache
Dreimal stand Ons Jabeur im Finale eines Grand-Slam-Turniers, stets machten ihr die seidenzarten Nerven einen Strich durch die Rechnung. Um ihr Endspieltrauma eventuell schon in New York zu überwinden, muss sich die erfolgreichste afrikanische Spielerin aller Zeiten jedoch eingestehen, dass etwas mächtig schiefläuft. Das Tennis für die ganz großen Titel hat die Tunesierin allemal, doch der Druck wird tendenziell zunehmen.
Drei Finals bei fünf Majors
Weil sie ständig ein Lächeln auf den Lippen trägt und ihren Landsleuten in den letzten Jahren so viel Freude bereitet, wird Ons Jabeur in ihrer Heimat „Minister of Happiness" genannt. Bei den seit Montag laufenden US Open strebt die Tunesierin danach, dieses Attribut wieder zu rechtfertigen. Eine herausfordernde Mission, wenn man an die Tränen zurückdenkt, unter denen Jabeur vor wenigen Wochen den Centre Court in Wimbledon verließ.
Das Titelmatch gegen Außenseiterin Marketa Vondrousova stellte ihre zweite aufeinanderfolgende Finalniederlage beim Londoner Rasenklassiker dar und das dritte verlorene Endspiel bei den letzten fünf Grand Slams.
Dabei handelten die Enttäuschungen im All England Club weniger vom Tennis, das gespielt wurde, als vielmehr von jenem, das nicht gespielt wurde. In beiden Matches wie auch im Finale der letztjährigen US Open war die bei ihren Kolleginnen überaus beliebte Ausnahmeerscheinung nicht in der Lage, ihren dynamischen, kreativen Spielstil, der sie in diese Showdowns befördert hatte, auf den Platz zu bringen.
Keine mentale Stabilität
Jabeur hat einen sehr charismatischen, lebhaften Charakter mit einem inspirierenden Hintergrund. Sie ist nicht nur die erste afrikanische Frau, die signifikante Erfolge auf der WTA-Tour feiern konnte, sondern auch erster arabischer Tennisprofi überhaupt, der bereits in Einzelfinals bei Major-Turnieren stand.
Vielleicht erklären diese Meilensteine, warum nur wenige Kommentatoren außerhalb des oft toxischen, aber manchmal auch sehr ehrlichen Social-Media-Sumpfes und der einschlägigen Internetforen die erwähnten Niederlagen der 29-Jährigen als Musterbeispiele für ein „Versagen, wenn es drauf ankommt" bezeichnen. Denn physisch war Jabeur bei ihren größten Auftritten durchaus auf der Höhe, emotional ganz offensichtlich nicht.
Fehlende Selbstreflexion
In Wimbledon musste die Nummer fünf der Welt in Bianca Andreescu, Petra Kvitova, Elena Rybakina und Aryna Sabalenka immerhin vier Grand-Slam-Champions bezwingen, um sich die Spielberechtigung für den Schlusstag zu sichern. Doch plötzlich schien die Rechtshänderin mit den seidenzarten Nerven vor Angst erstarrt zu sein und ging gegen die zu jenem Zeitpunkt nur auf Platz 42 im WTA-Ranking positionierte Marketa Vondrousova in zwei Sätzen unter.
Vielleicht wäre es für Jabeur an der Zeit, sich einzugestehen, dass sie in diesen Endspielen keineswegs ihre „normalen" Leistungen abgerufen hat. Die Rechtshänderin ist schlicht eine wesentlich bessere Spielerin, als es die Ergebnisse in ihren Grand-Slam-Finals ausdrücken. Doch statt den Weg der Selbstreflexion wählte sie einen schicksalsergebenen Ansatz: „Es ist, was es ist. Ich kann nichts erzwingen. Es hat einfach nicht sein sollen."
Weltklassetennis bis zum Finale
Noch zögert Jabeur zuzugeben, dass sie in der Stunde X in eine Art emotionale und mentale Lähmung verfällt. Menschlich ist die Haltung verständlich, weil Übernervosität Schwäche impliziert und ein gewisses Stigma mit sich trägt. Doch sind derartige Einbrüche keine ungewöhnliche Persönlichkeitsmakel, sondern eine temporäre Reaktion auf Aufregung.
Jede Spielerin und jeder Spieler auf jedem Niveau hat in entscheidenden Momenten schon einmal versagt. Das Symptom zu erkennen wäre der erste Schritt zur Bewältigung dieser Neigung.
Im vergangenen Jahr fegte Jabeur die meisten Kontrahentinnen auf dem Weg ins US-Open-Finale vom Platz. Dort angekommen, legte sie gegen Iga Swiatek einen mehr als bescheidenen Start hin und gab gleich zwölf der ersten 14 Punkte ab. Nach dem elenden Eröffnungssatz fand die vierfache Turniersiegerin besser ins Spiel, letztlich reichte es aber nicht: Jabeur verlor mit 2:6, 6:7 (5).
Selbst die viermalige Grand-Slam-Championesse Aranxta Sanchez Vicario, die bei Topevents als Beraterin der hochveranlagten Spielerin aus der in der Sahel-Region gelegenen Kleinstadt Ksar Hellal fungiert, sprach danach bekannte, salbungsvolle, aber wenig hilfreiche Worte: „Das Match war enger als es aussah."
Legendäre Vorbilder
Das Betreuerteam, zu dem auch auch die klinische Psychologin Melanie Maillard zählt, muss einen Weg finden, das Spiel der einstigen Juniorenmeisterin von Roland-Garros in entscheidenden Turnierphasen zu entkrampfen: den Geist, die Emotionen, was auch immer. Jabeur, die die Saulgauerin Tatjana Maria ihre beste Freundin nennt, sollte schleunigst den Closer in sich wecken, der ein Match kompromisslos zumacht. Als Motivation könnte ein historischer Rückblick dienen.
Der einzige aktuelle Tennisprofi neben der Tunesierin, der eine 0:3-Bilanz in Grand-Slam-Finals aufweist, ist der Norweger Casper Ruud. In der Geschichte der zwei Touren ATP und WTA haben nur sechs Herren und vier Damen - namentlich Helena Sukova, Wendy Turnbull, Mary Jo Fernandez und Dinara Safina - ihre ersten drei Major-Endspiele verloren, ohne danach jemals eines zu gewinnen.
Umgekehrt konnten in der Open Era vier Frauen und vier Männer nach drei Final-Niederlagen bei Grand Slams nachher noch über einen Triumph bei einem der vier größten Veranstaltungen des Jahres jubeln, zuletzt Dominic Thiem bei den US Open 2020. Weitere, noch prominentere Namen auf dieser Liste sind die Hall of Famer Chris Evert und Kim Clijsters sowie der unvermeidlich ebenfalls die Ruhmeshalle des Tennissports ansteuernde Andy Murray.
Nachricht von Andy Roddick
Andy Roddick hob gleich nach seinem ersten Grand-Slam-Finale in Flushing Meadows 2003 die Siegertrophäe. Der Amerikaner kann sich aber gut in Jabeur hineinversetzen, nachdem ihm Roger Federer viermal daran hinderte, auch an der Londoner Church Road zu triumphieren und schrieb ihr nach ihrem verlorenen Endspiel:
-Andy Roddick
Die nächste Chance kommt in den anstehenden zwei Wochen, am Dienstag bestreitet Jabeur, die Roddick als ihr Kindheitsidol beschreibt, ihr Auftaktmatch in New York gegen die Kolumbianerin Camila Osorio. Inzwischen sollte sie ausreichend Erfahrung haben, mit Stress umzugehen, der mit solchen Errungenschaften einhergeht. Andererseits wird der Druck nicht abnehmen. Und bei aller Kenntnis über Finalsituationen muss die arabische Sportsfrau des Jahres 2019 verstehen, dass jedes Titelmatch in einem Grand Slam anders und schon gar nicht mit einem Viertel- oder Semifinale vergleichbar ist.
Fake it until you make it
Allein die innere Unruhe gegenüber der Gegnerin und den Zuschauern zu verstecken, wäre sicherlich förderlichen. In Wimbledon nahm etwa Kim Clijsters wahr, wie Jabeur im Finale fehlendes Selbstvertrauen über ihre Körpersprache zum Ausdruck brachte, wie die viermalige Major-Gewinnerin der New York Times diktierte:
-Kim Clijsters
Clijsters weiß, wovon sie spricht. Die Niederländerin verlor ihre ersten vier Major-Finals. Dann gewann sie die nächsten vier.