Powertennis: Kein Schlüssel auf dem Weg zur Spitze
Große Rivalitäten sind stets von unterschiedlichen Spielanlagen geprägt. Doch vor allem im zunehmend eindimensionalen Damentennis suchen immer mehr Protagonistinnen das Allheilmittel in der Kraft. Langfristig haben sich reine Hardhitter aber nur selten durchgesetzt.
Keine Langfristigkeit mit purer Power
Ashleigh Barty beendete vor wenigen Monaten ihre Tenniskarriere als Weltranglistenerste, doch gilt die Australierin als Paradebeispiel für eine sich wiederholende Beobachtung: Auf dem Höhepunkt ihres Schaffens dominieren gerade auf der über lange Phasen so unberechenbaren Damenseite nicht jene Spielerinnen, die lediglich die meiste Power in ihren Schlägen generieren, sondern die mit der feinsten Klinge.
Osaka und Andreescu scheiterten an Barty
Im Zeitalter des Powertennis fallen zwangsläufig zuallererst die Namen Naomi Osaka und Bianca Andreescu als jene Spielerinnen mit den größten Möglichkeiten. Und die Japanerin ist tatsächlich die erste Akteurin seit Serena Williams, die sich mit diesem Spielansatz an der Spitze des Circuits festsetzte. Aus unterschiedlichen Gründen gehören aber weder die 24-Jährige noch die Kanadierin zu den derzeit besten zehn Spielerinnen der Welt.
Wie viele andere Spielerinnen galten Osaka und Andreescu als Opfer der Dominanz von Ash Barty. Die mit viel Finesse alle in den Schatten stellende Iga Swiatek knüpft nun nahtlos an die Dominanz der Australierin an. Schon davor bissen sich die Powerhitter an der feinfühligen Simona Halep die Zähne aus und mussten schier ohnmächtig zusehen, wie Barbora Krejcikova, Paula Badosa und Ons Jabeur in der Weltrangliste an ihnen vorbeizogen.
Keine Power ohne Kontrolle
Dabei kennt man das Bild nur allzu gut: In der jüngeren Vergangenheit waren es Martina Hingis, Justine Henin, Amelie Mauresmo und Jelena Jankovic, die vorzeigten, dass Kraft nicht als Allheilmittel auf der WTA-Tour wirkt.
Osaka und Andreescu stellen gewissermaßen das Bindeglied zu Williams dar und münzen den Werbeslogan „Power is nothing without control" des italienischen Reifenhersteller Pirelli auf Tennis um. Serena galt als seltenes Beispiel für die perfekte Verknüpfung von Kontrolle und Kraft. Die vielleicht erfolgreichste Spielerin der Tennisgeschichte legte den Beweis vor, dass ein vielseitiges Spiel nicht nur über eine unterschnittene Rückhand definiert werden darf.
„Der letzte Inbegriff des eindimensionalen Bum-Bum-Phänomens war Maria Sharapova", behauptet Sam Sumyk, der mit Victoria Azarenka und Garbine Muguruza zwei Spielerinnen an die Weltranglistenspitze führte, die nicht das bedingungslose Powertennis repräsentieren.
– Sam Sumyk
Serena bietet mehr als nur Kraft
„Es gibt so viele Mischformen, wie bei Clijsters oder Serena, die mit wenig Slice oder Spin spielen", erklärt der französische Topcoach. „Powerhitter, die sich über einen längeren Zeitraum an die Spitze hielten, konnten immer irgendetwas zu ihrem Kraftansatz hinzufügen. Sogar Sharapova hat gegen Ende ihrer Karriere Dinge ausprobiert, die davor in ihrem Spiel nicht existent waren."
– Kraft allein reicht nicht, diagnostiziert auch Sam Sumyk.
Sabalenka und Ostapenko scheint auf der Suche nach Beständigkeit dieser Zugang zu fehlen. In einer von Kraft und Intensität beherrschten Generation haben sie zusammen einen einzigen Major-Titel (die Lettin gewann die French Open 2017), während Osaka bei vier Grand Slams hält.
Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt
„Power kann dich sehr weit bringen, gibt dir aber nicht alle Möglichkeiten, konstant oben zu bleiben. Serena meistert dieses Kunststück" setzt Sumyk fort. „Aber wenn ganz vorne eine Barty - oder jetzt Swiatek - steht, die mit ihrer wunderbaren Physis es geschafft hat, kraftvolleren Spielerinnen mit Variantenreichtum zu kontern, zeigt es die Grenzen des Powertennis auf." Die Konsequenz sei, dass diese Hardhitter mehr Risiko eingehen, noch härter schlagen, noch näher an die Linien zu spielen versuchen und dadurch die eigene Fehlerquote erhöhen.
Doch dürfe man nicht Kraft mit Geschwindigkeit verwechseln. „Nur wenige Spielerinnen verfügen über beides", so der 54-Jährige. „Auch Intensität und Power ist nicht dasselbe. Monica Seles wies enorme Intensität auf. Mit ihrem beidhändigen Spiel hat sie unglaubliche Winkel geschlagen, die ihr erlabten, den ganzen Platz in Anspruch zu nehmen."
Mit ihren harten, frühen Schlägen hat die neunfache Grand-Slam-Siegerin nicht nur links-rechts gespielt, sondern die Gegnerinnen durch kurze Cross-Bälle und eingestreute Stopps aus der Balance gebracht. „Da ging es nicht um pure Power. Im Gegensatz zu Aryna Sabalenka, die vorwiegend voll durchzieht."
Sabalenkas Stärke setzt manchmal aus
Die Weißrussin ist sich dessen durchaus bewusst, kennt aber auch den Faktor, um diese Eindimensionalität auszugleichen: Coaching. „Als ich jung war, haben meine Trainer weniger an den unterschiedlichen Aspekten meines Spiels gearbeitet. Es wurde mehr auf Kraft als auf Taktik und Finesse geachtet."
– Ihre mangelnde Vielseitigkeit führt Aryna Sabalenka zum Teil auf ihr Coaching zurück.
Inzwischen feilt die Weltranglistendritte daran, dieses Manko zu beheben, will ihre vorhandenen Stärken aber gleichzeitig nicht vernachlässigen. „Letztlich gewinne ich die meisten meiner Punkte über die Power. Das ist ein Riesenvorteil. Wenn du die Matches dann aber trotzdem nicht gewinnst, wird die Formsuche umso schwieriger."
Auch Sumyk sieht die Ursache der Entwicklung im Damentennis bei der Trainerausbildung. „Wir haben eine große Verantwortung. Aber selbst den Coaches wird nicht mehr beigebracht, reinen Punchern einen Rückhand-Slice oder Volley zu lehren."
Gesamtpaket Carlos Alcaraz
Für den Franzosen beginnt der Leistungsdruck jedenfalls zu früh. „Willst du dein Spiel entwicklen, musst du im Nachwuchs lernen, drei, vier Jahre lang Niederlagen gegen an sich limitiertere Gegner zu akzeptieren, die nur den Ball im Feld halten wollen."
Im Gegenzug sollte Power als Bonus zu den Grundschlägen betrachtet werden, aber nicht als Qualität, die man entwickle, wie Shootingstar Carlos Alcaraz aktuell bei den Herren eindrucksvoll demonstriert. „Er ist ein sehr kraftvoller Spieler, der aber auch sehr variantenreich agiert, weil er eben über die nötige Technik verfügt." Gleichzeitig zeigt Sumyk Verständnis für Sabalenka. „Ich habe gesehen, dass sie mit ihrem Coach an ihrem Winkelspiel arbeitet. Andererseits ist sie mit ihrem Powertennis sehr erfolgreich."
Mouratoglu: Kontrolle als Schlüssel
Landsmann Patrick Mouratoglu fordert von seinen Schützlingen ein, ihre Power jederzeit unter Kontrolle zu haben. „Diese Balance ist der Schlüssel, auf höchstem Level zu performen. Jeden einzelnen Schlag mit einem Maximum an Power und einem Minimum an unerzwungenen Fehlern anzugehen, ist eine Frage der Einstellung." Und diese Mentalität müsse man am Trainingsplatz verinnerlichen. „Wenn du dich beim Training daran gewöhnst, mit deinen besten Schlägen Fehler zu vermeiden, wird es dir auch im Match gelingen."
Der Langzeitcoach von Serena Williams und vorübergehende Betreuer von Simona Halep schwört generell auf Wiederholungen. „Niemand macht gerne Fehler. Selbst Spieler nicht, die auf Winner ausgerichtet sind und deswegen Risiko in Kauf nehmen. Man kontrolliert Power nicht, indem man Schlagkraft herausnimmt, sondern, indem man mehr Spin hinzufügt und eine Einstellung der maximalen Fehlervermeidung verfolgt. Diese Balance zu finden, schaffen nur Topspieler."
Sand hilft, vielseitiger zu werden
Selbstverständlich wirkt ultraschnelles Powertennis, wie es Sabalenka und Ostapenko praktizieren, auf die Zuschauer spektakulär, wenn die Spielerinnen ihre Höchstform erreichen. Die Bälle fliegen wie Geschoße über das Netz, Winner sind kaum zu retournieren. Dieses Alles-oder-Nichts-Konzept kann aber auch eine Falle darstellen, denn selten geht ein derartig spektakulärer Matchplan auf höchstem Niveau auf. „Wenn ihre Schläge kommen, sind diese Mädchen nur sehr schwer zu schlagen", bestätigt Sumyk. „Wenn nicht, haben die Spielerinnen keinen Plan B, auf den sie zurückgreifen können."
– Powertennis kann schnell in eine Sackgasse führen, so Sam Sumyk.
Unterschiedliche Stile kreieren Rivalitäten
Leider wird sich die Szene nicht an weiteren Duellen zwischen Barty und Osaka erfreuen dürfen, doch die Hoffnung bleibt bestehen: Feuer und Eis, David und Goliath, Risiko und Pragmatismus, bilden die perfekten Gegenpole für eine fesselnden Rivalität. Nur so kann sich der Sport entwickeln.