Novak Djokovic: Geschichtsschreiber in Wimbledon?
Die Ausgangslage im Herrentennis verspricht eine hochdramatische erste Saisonhälfte 2023, doch Wimbledon dürfte alle vorhergehenden Highlights in den Schatten stellen. Der Grund? Novak Djokovic. Am heiligen Rasen des All England Clubs könnte der 21-fache Grand-Slam-Champion nicht nur mehrere Rekorde knacken, sondern auch endgültig zum erfolgreichsten Spieler aller Zeiten avancieren.
Hochspannung in der ersten Saisonhälfte
Die Erwartungen für ein aufregendes neues Tennisjahr, in dem Novak Djokovic wohl einmal mehr eine tragende Rolle einnehmen dürfte, sind gewaltig. Seine diesmal ohne erwähnenswerte Vorfälle erfolgte Rückkehr nach Australien wirft schon jetzt die Frage auf, ob der 35-Jährige wieder den Gipfel seiner Sportart erklimmen kann. Schließlich verpasste der Serbe in der turbulenten, abgelaufenen Saison zwei von vier Grand-Slam-Turnieren. Bei den Australien Open 2023 gilt Djokovic jedenfalls als klarer Favorit, seinen 22. Major-Titel zu erobern.
Bester Rasenspieler aller Zeiten?
Sollte der 21-fache Grand-Slam-Champion einen Weg finden, Ende Januar zum zehnten Mal die Siegertrophäe bei den Australian Open zu stemmen, könnte der Melbourne-Triumph den nötigen Schub für eine krönende Kür im kommenden Sommer geben. Abhängig von Rafael Nadals Abschneiden bei den Turnieren der höchsten Ebene hätte Djokovic dann in Wimbledon womöglich erstmals die Chance, den alleinigen Rekord an Major-Titeln einzufahren und auf vorläufig 23 zu setzen.
Im reifen Alter zu höchsten Würden
Geschichte würde er mit dem Durchmarsch an der Londoner Church Road auf jeden Fall schreiben. Mit vier aufeinanderfolgenden Einzeltitel und sechs der letzten acht, fehlt dem Djoker nur noch ein Triumph auf die Bestmarke Federers, der achtmal im Wimbledon gewann.
Die Erkenntnis ist durchaus überraschend, hatte der Schweizer ja über zwei Jahrzehnte lang die Tennisszene im Allgemeinen und das sommerliche Spiel auf Gras im Speziellen überstrahlt. Langsam dämmert es aber auch den eingefleischtesten Federer-Fans, dass ein anderer Profi das Rasentennis vielleicht genauso gut beherrscht. Selbst im reiferen Alter hat Djokovic in fast alarmierendem Tempo Titel auf dem Naturbelag gehamstert und konnte in einigen monumentalen Kategorien zum Maestro aufschließen.
Einzig Federer und Björn Borg gewannen in Wimbledon fünf Herren-Einzeltitel in Serie, was die aktuelle Nummer fünf der Welt 2023 ebenfalls schaffen könnte. Dass er sich nach Vollendung des 30. Lebensjahres in diese Position gebracht hat, ist Zeugnis seiner unglaublichen körperlichen und mentalen Fitness. Anzeichen von Ermüdung sind nicht zu erkennen. Bei der letzten Auflage mähte sich Djokovic förmlich durch den Bewerb, wie jene Maschinen, die den makellosen Rasen der Wimbledon-Courts auf exakt acht Millimeter Länge stutzen.
Grand-Slam-Rennen in Wimbledon entschieden
Der Triumph 2022 machte den Rechtshänder zum zweitältesten Wimbledon-Champion aller Zeiten, im kommenden Juli könnte er Federer als ältesten ablösen. Der abgetretene Tennis-Ästhet war bei seinem letzten Titelgewinn 35 Jahre und 342 Tage alt, bei seinem finalen Endspiel 37 Jahre und 340 Tage. In jenem dramatischen Fünfsatz-Thriller 2019 musste sich Federer nach zwei vergebenen Matchbällen ausgerechnet Djokovic beugen.
Ab 2014 war Nole in Wimbledon ein Dorn im Auge des Baselers. In den drei seither zwischen den zwei Superstars bestrittenen Finals 2014, 2015 und 2019 behielt immer Djokovic die Oberhand und änderte das Rennen um die meisten Grand-Slam-Titel signifikant zu seinen Gunsten. Ein Gedankenspiel: Hätte Federer nur zwei dieser drei Showdowns für sich entschieden, wäre er mit 22 Majors in Rente gegangen, während sein Rivale zu Beginn dieser Saison bei 19 halten würde.
Dass Djokovic einige seiner größten Erfolge auf dem Rasen von Wimbledon erzielte, ist kein Zufall. Einerseits war er stets in der Lage, sein Spiel auf diesem Belag weiterzuentwickeln. Zum anderen rang er Roger Federer auf Gras meistens nieder, den erklärten G.O.A.T. auf dieser Unterlage, was einiges über die Affinität des 91-maligen ATP-Titelgewinners zum grünen Rasen erklärt.
Kindheitstraum erfüllt
Erfolge in Wimbledon weiß Djokovic ganz besonders zu schätzen, wodurch auch die Bereitschaft, sich auf Rasen ständig verbessern zu wollen, verstärkt zum Tragen kommt. „Dieser Centre Court und dieses Turnier haben den exklusivsten Platz in meinem Herzen, weil ich schon als Kind von Wimbledon geträumt habe", sagte Djokovic nach seinem Finalsieg über Nick Kyrgios 2022.
– Novak Djokovic über den Rasen von Wimbledon.
Mit einer Serie von 28 gewonnenen Matches, einer 7:1-Bilanz in Endspielen und keiner einzigen Niederlage am Centre Court seit 2013 muss sich der Belgrader in der bedeutendsten Kathedrale des Tennissports ja fast zwangsläufig unbesiegbar fühlen.
Auf Rasen kein ernsthafter Konkurrent in Sicht
Die Kluft, die zwischen ihm und dem Rest des Feldes über die Jahre entstanden ist, kommt ihm in Wimbledon freilich noch mehr zugute. Auf keinem Belag macht Erfahrung dermaßen viel aus wie auf Gras. Und Routine hat Djokovic im Überfluss. Seit dem Karriereende von Roger Federer ist er in diesem Bereich unerreicht, weil auch sein größter Rivale Rafael Nadal bei keinem anderen Grand Slam mehr zu kämpfen hat.
Der Weltranglistenerste Carlos Alcaraz hat wiederum gerade einmal sechs Matches im All England Club bestritten und braucht wohl noch ein bisschen Zeit, um auch an der Church Road zu einem ernsthaften Titelkandidaten aufzusteigen. Vorjahresfinalist Nick Kyrgios und Rasenspezialist Matteo Berrettini gelten in London hingegen als gefährliche Herausforderer, im Augenblick spielt Djokovic aber in einer eigenen Liga.
Kommt das Beste zuletzt?
Sollte dem Preisgeld-Rekordmann mit seinen bisher 165 Millionen eingespielten Turnier-Dollars Gleiches gelingen, würde sein potenzieller Gegner kaum einen vergleichbaren Lebenslauf wie Federer aufweisen, ein ähnlich hochstehendes Tennis schon gar nicht.
Djokovic hat voraussichtlich noch drei, vier gute Jahre, in denen er auf allerhöchstem Niveau auftrumpfen und weitere Meilensteine erreichen könnte. Im Mai wird der Wahlmonegasse 36, seine besten Tage auf dem heiligen Rasen des All England Clubs liegen möglicherweise aber noch vor ihm. Und dann würde er endgültig zum höchstdekorierten Spieler der Tennisgeschichte avancieren.
Im zwei Jahrzehnte anhaltenden goldenen Zeitalter des Herrentennis haben sich die tektonischen Platten des Sports mehrfach verschoben. 2023 wird es garantiert zu weiteren Beben kommen, das größte vielleicht sogar in Wimbledon.