Iga Swiatek: Die Aura ist zurück
Ohne Satzverlust im gesamten Turnierverlauf stürmte eine entfesselt aufgetretene Iga Swiatek in Cancun zu ihrem ersten Titel bei den WTA Finals. Mit dem Herabschrauben ihrer eigenen Erwartungen setzte sich das unglaubliche spielerische Talent der vierfachen Grand-Slam-Championesse wieder durch. Die Konsequenz: Nach elf Siegen in Serie beendet die Polin das Jahr doch noch an der Spitze der Weltrangliste.
Bagels und Breadsticks
Gegen Iga Swiatek spielen zu müssen, erzeugt bei jeder Gegnerin fast zwangsläufig Druck. Sobald sie nur ein Break holt, und sei es in den ersten zwei, drei Games des Matches, kann man sich schnell am falschen Ende eines Bulldozers vermuten.
Niemand auf der Damentour füttert ihre Kontrahentinnen mit derart vielen Bagels und Breadsticks, Begriffe aus dem Tennisjargon für ein 6:0 bzw. 6:1. Und niemand ist so schwer einzufangen, sobald sie eine freie Schnellstraße vor sich sieht.
Jüngstes Opfer ist Jessica Pegula. Dabei hatte die Amerikanerin das Endspiel der WTA Finals durch vier überzeugende Siege ohne Satzverlust erreicht. Gegen die Konstanz und Unerschütterlichkeit der 29-Jährigen unter Hurricane-artigen Bedingungen in Cancun konnten die Nummer eins, Aryna Sabalenka, die Nummer vier, Elena Rybakina und die Nummer fünf der Welt, Coco Gauff, nichts entgegensetzen.
Erster Sieg gegen Nummer eins
Swiatek hatte bis dahin allerdings nicht minder überzeugt. Auch die Polin musste bis zum Showdown keinen Satz abgeben. Im Gegenteil, sie verteilte Bagels an Wimbledon-Siegerin Marketa Vondrousova und US-Open-Champion Gauff.
Auch Sabalenka, ihres Zeichens amtierende Australian-Open-Gewinnerin, ließ die 22-Jährige mit 6:3, 6:2 nicht den Funken einer Chance. Kurioserweise war es für die vierfache Grand-Slam-Siegerin, die bis September selbst 75 Wochen lang durchgehend an der Spitze des Rankings stand, ihr allererster Erfolg über eine aktuelle Nummer eins der Welt.
Normales Jahr
Verknüpft man ihre Performances in Mexiko mit dem vorangegangen Titelgewinn beim WTA1000 in Peking, näherte sich Swiatek ihrem schier unglaublichen Niveau von 2022 an. Die Zweifel, die Fehler, die überraschenden Niederlagen und die unangenehmen Gespräche mit ihrem Betreuerstab, die sich in ihr Spiel in diesem Jahr geschlichen hatten, krochen plötzlich wieder heraus.
„Ich habe es irgendwie absurd gefunden, weil die Leute schon gewohnt waren, dass ich immer gewinne", sagte Swiatek über die öffentliche Erwartungshaltung, die sie über die gesamte Saison begleitet hatte.
In zehn Sätzen nur 20 Spiele verloren
Doch normal endete ihr Jahr keineswegs. Die Warschauerin fegte zum Abschluss Pegula in der Nacht auf Dienstag mit 6:1, 6:0 förmlich vom Platz. Damit verlor sie im Turnierverlauf nur 20 Games, ein neuer Fabelrekord für die WTA Finals seit der Formatänderung mit Gruppenmodus 2003. Die alte Bestmarke hatte Serena Williams mit 32 nicht gewonnen Spielen beim Saisonfinale 2012 gehalten.
Nur neun Winner im Finale
Zurück nach Cancun: In weniger als zehn Minuten hatte Swiatek endgültig die Oberhand im Showdown gewonnen. Der Schlüsselmoment trat nach drei Spielen und Service Pegula ein. Die stetig härter gepeitschten Grundschläge des Schützlings von Coach Tomasz Wiktorowski begannen Wirkung zu zeigen. Als die US-Außenseiterin versuchte, mit gleicher Kraft zu kontern, setzte sie die Bälle ins Out und gab schließlich das eigene Aufschlagspiel ab.
Und in diesem Takt ging es weiter. Pegula, die als erste Akteurin seit Einführung des WTA-Rankings 1975 gegen die ersten vier Spielerinnen der Weltrangliste im selben Turnier angetreten war, beging 21 unerzwungene Fehler, dem standen ebenso viele Winner gegenüber.
Swiatek wiederum gewann 82 Prozent der Punkte mit dem ersten Aufschlag und verwertete fünf von sieben Breakbällen. Die interessanteste Statistik stellte aber die Zahl ihrer direkten Punktschläge dar. Ihr gelangen nur neun Winner im gesamten Match.
Umstellungen führen zum Erfolg
Im Herbst hatte die 17-fache Turniersiegerin auf der WTA-Tour zwei Adaptierungen vorgenommen, eine philosophische und eine taktische. Philosophisch änderte sie ihre Einstellung bezüglich des Rennens um die Nummer eins am Saisonende. Im Prinzip meinte Swiatek, sie müsse aufhören, darüber nachzudenken.
Und taktisch machte sie nach einer von zahllosen Fehlern geprägten Niederlage in Tokio im Prinzip einen Schritt zurück und spielte von da an mit weniger Risiko. Beide Umstellungen erfüllten im letzen Monat ihren Zweck.
Kraft statt Präzision
Bei den China Open merkte Swiatek, dass sie in den Ballwechseln nicht zwingend die schnelle Entscheidung suchen musste, sondern gegen die meisten Widersacherinnen die Schläge hatte, um die Rallyes dennoch zu diktieren. Im Cancun zeigte sich dann das gleiche Bild.
Swiateks Matchplan glich gewissermaßen jenem von Novak Djokovic bei seinem Finalsieg über Grigor Dimitrov in Paris-Bercy. Mit ausbauender Führung im Match kehrte die erstmalige Gewinnerin des Jahresabschlussturniers immer mehr zu ihrer so gefürchteten, variantenreichen Spielanlage zurück.
Fokus aufs Spielen
Swiatek, der abseits des Courts oft Farblosigkeit nachgesagt wird, hatte auf dem Platz ihre Aura wiedererlangt. Und sie hatte vor allem den Tennisthron wiedererlangt - gerade rechtzeitig, um das Jahr zum zweiten Mal an der Spitze des WTA-Rankings zu beenden.
Letztlich bekam sie also genau das, was ihr mittlerweile nicht mehr wichtig erschien. Sie befreite sich von allen Erwartungen, inklusive ihren eigenen, und fokussierte sich ganz aufs Tennisspielen. Und keine Sportlerin kann das momentan besser als Iga Swiatek.