WTA und ATP: Steht eine Fusion der Profitouren bevor?
Im Verlauf der Jahre gab es immer wieder Kooperationen zwischen den Spielervereinigungen der Damen und Herren. Selbst über eine Verschmelzung der beiden Circuits wurde oft geredet, ernsthaft in Erwägung gezogen hatte man sie allerdings nie. Bis jetzt. Die Pandemie verleiht der Debatte neuen Schwung. Und die Chance auf eine tatsächliche Umsetzung scheint größer denn je.
Legenden-Tweets lösen Diskussion aus
Billie Jean King hatte einen Traum. Klar, Billie Jean King hatte viele Träume, ungefähr so viele wie ein Tausendfüßer Beine hat. Doch einen spezifischen Traum nährt sie seit ihrer aktiven Zeit als damals zentrale Figur bei der Gründung der Women's Tennis Association und der daraus resultierten Damentour.
„Ich bin dafür, die ATP und die WTA zu fusionieren. Das sage ich seit den frühen Siebziger-Jahren", teilte die amerikanische Filzball-Legende ihren Followern im April 2020 auf Twitter mit. „Eine Stimme. Frauen und Männer gemeinsam - so sieht schon lange meine Vision für das Tennis aus. Die WTA für sich allein war immer ein Plan B."
I agree, and have been saying so since the early 1970s. One voice, women and men together, has long been my vision for tennis.
The WTA on its own was always Plan B.
I'm glad we are on the same page.
Let's make it happen. #OneVoice https://t.co/FHbQHLiY6v
- Billie Jean King (@BillieJeanKing) April 22, 2020
King reagierte dabei lediglich auf einen einfachen, vielleicht ein bisschen provokant gemeinten Tweet von Roger Federer zu Beginn der wegen der Covid-19-Pandemie verhängten Lockdowns. „Ich frage mich bloß… Bin ich der einzige, der denkt, dass die Zeit reif ist, das Herren- und Damentennis zu vereinen und sich als Einheit zusammenzuschließen?"
WTA gleicht Turnierkategorien an
Möglicherweise philosophierte der 20-fache Grand-Slam-Champion nur ein bisschen vor sich hin. Doch verursachen selbst die bedeutungslosesten „Was wäre wenn"-Überlegungen der Schweizer Ikone natürlich Schlagzeilen und Gesprächsstoff auf allen Ebenen des Sports. Knapp zwei Jahre später scheint Kings Vision und Federers implizite Unterstützung zur Umwandlung der zwei Spielergewerkschaften in eine einzige Interessenvertretung für Tennisprofis beider Geschlechter einer Realisierung ein paar Schritte näher gekommen zu sein.
Man kann die Debatte als ein weiteres unerwartetes Nebenprodukt der Pandemie bezeichnen, diesmal dürfte es aber ein vielversprechendes sein. Die Initialzündung, beide Touren näher aneinander zu rücken, gab die WTA Ende des vergangenen Jahres. Mit Beginn der neuen Saison verwarf der Damen-Circuit sein unüberschaubares System der Turnierkategorisierung.
Gemeinsamer Marketing-Auftritt
Darüber hinaus sind die zwei Touren formelle Kooperationen eingegangen; etwa mit der Marketing-Kampagne #CrossCourt, die Spielerinnen und Spieler beider Vereinigungen promotet. Einer dieser mehrere Episoden umfassenden Digitalbeiträge befasst sich mit dem frisch verheirateten Paar Gaël Monfils und Elina Svitolina, ein anderer mit Fabio Fognini und Elena Vesnina in ihrer jeweiligen Elternrolle. Eine der Hauptaufgaben der eigens für das Projekt engagierten Marketingspezialisten besteht in der Findung von Schnittmengen in der Markenpolitik.
Ein Umdenkprozess setzte auch mit der durchaus umstrittenen, im Vorjahr aus der Taufe gehobenen Spielerorganisation Professional Tennis Players' Association ein. Ursprünglich fischten die beiden Initiatoren Novak Djoković und Vasek Pospisil lediglich im Teich der ATP nach Mitgliedern und wurden deswegen bei der Vorstellung der PTPA während der US Open 2020 auch heftig kritisiert. Djoković und seine Unterstützer reagierten prompt und bemühten sich sogleich, auch Damen für die neue Interessenvertretung zu rekrutieren.
Die jüngste Zusammenarbeit zwischen ATP und WTA ist aber auch ein Signal, sich von der grundsätzlichen gegenseitigen Gleichgültigkeit und der Wettbewerbsbeziehung zu distanzieren, von der die Touren lange getrieben waren. Die ATP war im September 1972 gegründet worden, die WTA nur neun Monate später. Dass die Damen eines Tages mit dem Produkt der Herren konkurrieren würden, konnte sich die der Männer-Circuit damals nicht vorstellen.
Es scheiterte von Anfang an am Geld
Den größten Unterschied stellten in den Anfangszeiten die Preisgelder bei gemeinsamen Veranstaltungen dar. So streifte Ilie Năstase 3500 Dollar für seinen Titel bei den Italian Open 1970 ein, Billie Jean King erhielt für den Sieg im Frauenbewerb lediglich 600 Dollar. Für die zwölfmalige Major-Gewinnerin, seit jeher eine Vorreiterin in Gleichberechtigungsfragen, sollte sich dieses Missverhältnis als Wendepunkt in ihrem Einsatz für eine existenzfähige professionelle Damentour erweisen.Somit entwickelten sich zwei Touren, die allein aus praktischen Überlegungen zunächst nicht einmal über eine Allianz nur nachzudenken wagten. Das gewichtigste Argument gegen eine Zusammenarbeit bildete stets diese enorme Einnahmenkluft. Jahrzehnte später erhöhte die Angleichung des Preisgeld bei nicht von den Spielervereinigungen, sondern dem Weltverband ITF organisierten Grand-Slam-Turnieren sowie die steigende Popularität von Kombi-Veranstaltungen wie in Miami oder Indian Wells allmählich den Anreiz, gemeinsame Sache zu machen.
Corona sorgt für Umdenkprozess
Doch letztlich war es die Pandemie, die den Anstoß zum Umdenken gab. Konfrontiert mit ausgedehnten Shutdowns, Turnierabsagen in Asien, Ausschlüssen von Zuschauern und der Einhaltung strikter Gesundheitsprotokolle, erkannten die Verantwortlichen die Vorteile einer erweiterten Kooperation.
„Wenn die Dinge gut laufen, will niemand etwas aufgeben - in keinem Business", sagt Chris Kermode, bis Ende 2019 höchst erfolgreicher Geschäftsführer der ATP. „Du kannst in guten Zeiten niemanden dazu bringen, Veränderungen herbeizuführen. Dies geschieht erst mit dem Aufkommen einer Krise. Notsituationen sind zumeist die wahren Beweggründe derartiger Entscheidungen."
– Chris Kermode sieht in der Pandemie den Auslöser für das Umdenken.
Die durch die Pandemie verursachten Herausforderungen fügten sich nun auch bestens in die neuen Prioritäten der ATP unter Kermode-Nachfolger Andrea Gaudenzi und WTA-Pendant Steve Simon ein. Gaudenzi setzte sich dafür ein, die Herrentour vom Eintrittskartenverkauf unabhängig zu machen. Stattdessen sollten die Einnahmen über die Medien lukriert werden, in erster Linie mittels intensiverem Engagement in den sozialen Netzwerken. Diesbezüglich war die WTA, die eine wesentlich aktivere Social-Media-Präsenz pflegte, der logische Ansprechpartner.
Intensiver Austausch zwischen Tour-Verantwortlichen
Nur wenige Wochen nach Amtsantritt verhandelte Gaudenzi bei den Australian Open 2020 mit WTA-Präsidentin Micky Lawler und Vertretern von Tennis Australia über eine engere Zusammenarbeit zwischen den Touren. Schließlich hatte die Premiere des über mehrere Wochen und Städte ausgetragenen ATP Cups Chaos in den australischen Tenniskalender gebracht und die WTA-Events schwer getroffen. Einige Vorbereitungsturniere auf das erste Major des Jahres in Melbourne hatten sich wegen des neuen Männer-Teambewerbes als undurchführbar erwiesen.
Derzeit tüftelt man an einen Mannschaftsbewerb für die Damen, der möglichst viele Parallelen zum ATP Cup aufweisen soll. Ob dieses neue WTA-Format bereits im kommenden Januar über die Bühne gehen kann, steht aufgrund der überaus strengen Covid-19-Bestimmungen der australischen Regierung noch immer in den Sternen.
Doch sollten die ATP und die WTA tatsächlich mit einem gemeinsamen Mega-Event in das Jahr starten, dürfte auch ein Saisonfinale unter dem gleichen Hallendach in den Überlegungen nicht weit entfernt sein. Der Modus der beiden Abschlussturniere mit den besten acht Einzelspielern und Doppelpaaren des Kalenderjahres ist ähnlich. Woche und Austragungsort unter einen Nenner zu bringen, dürfte also zu bewältigen sein. Zwar fanden die WTA Finals vor Ausbruch der Pandemie stets einen Monat früher als der Showdown der ATP-Tour statt, von einem Kompromiss darf jedoch ausgegangen werden.
Finanzielle Kluft wird kleiner
Dennoch könnte Billie Jean Kings Traum zunächst ein Wunschdenken bleiben. So stellen die höheren Einnamen auf Herrenseite nach wie vor die am schwersten zu überwindende Hürde für eine Fusion dar, obwohl auch diese Kluft stetig kleiner wird. Ein baldiges Abtreten der Big Three Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djoković könnte den finanziellen Gap weiter schmälern. Und die Preisgeldangleichung bei Grand Slams und gemeinsamen Turnierveranstaltungen trägt ebenfalls zur Verringerung der Differenz bei.
Und wer weiß? Die wohl unvermeidliche post-pandemische Marktbereinigung sollte jedenfalls die verstärkte Austragung von Kombi-Events mit Herren und Damen am selben Turnierort weiter pushen - und Kings Traum doch noch Wirklichkeit werden lassen.