Carlos Alcaraz: Für Wimbledon eingeschlagen
Dank beeindruckenden Anpassungsfähigkeit holte Carlos Alcaraz im Queen's Club nicht nur seinen Premierentitel auf Rasen, sondern durfte auch wieder den ATP-Thron besteigen. Doch was bedeutet dieser Erfolg nach seinem Pariser Kollaps für den Saisonhöhepunkt? Immerhin wird ja auch Novak Djokovic in Wimbledon antreten.
Anlaufschwierigkeiten auf ungewohntem Terrain
Vergangenen Dienstag hatte Carlos Alcaraz den Anschein vermittelt, als würde seine erstes Gastspiel im Londoner Queen's Club eher kurz ausfallen. In seinem Auftaktmatch gegen den Franzosen Arthur Rinderknech verlor er den ersten Satz, auch der zweite begann nicht viel besser.
Für Alcaraz stellte das Vorbereitungsevent auf die kommende Woche beginnenden All England Championships in Wimbledon erst sein drittes Antreten bei einem Rasenturnier auf der Profi-Tour dar, was ihm durchaus anzumerken war.
Rückschläge in Rom und Paris
In den letzten drei Jahren wurde Carlos Alcaraz von weiten Teilen der Szenebeobachter - wohl zurecht - als Zukunft des Herrentennis bezeichnet. Mit 19 Jahren war er bereits an der Spitze der Weltrangliste angelangt, hatte einen Grand-Slam-Titel gewonnen und sowohl Novak Djokovic als auch Rafael Nadal geschlagen.
Alcaraz war spielerisch wie athletisch der vielleicht elektrisierendste Akteur, den man je auf einen Tennisplatz gesehen hatte. Einige Auftritte in jüngster Vergangenheit ließen aber dennoch Zweifel aufkeimen, ob die mediale Krönung nicht zu früh erfolgt sei.
In Rom scheiterte der amtierende US-Open-Champion sang- und klanglos an Fabian Marozsan, der Nummer 135 im ATP-Ranking. Beunruhigender war jedoch die Darbietung in Roland-Garros, als er in einem potenziellen Semifinal-Klassiker gegen Novak Djokovic plötzlich von Krämpfen geplagt wurde.
Erster Rasentitel im dritten Versuch
Selbstverständlich verfügt Alcaraz über die physischen Voraussetzungen, zum dominierenden Spieler der nachrückenden Generation zu avancieren. Die Niederlage bei den French Open, die er auf die Anspannung des Augenblickes zurückführte, offenbarten allerdings, dass er noch einiges über Emotionsmanagement zu lernen hat.
Und so langweilig es auch klingen mag, besteht auch Potenzial, in wichtigen Matches etwas weniger von seiner so fesselnden Magie, dafür ein wenig mehr an kaltblütiger Effizienz zu präsentieren. Alcaraz hat wiederholt bewiesen, dass er ein Siegertyp ist. Manchmal gestaltet er den Triumphzug aber länger und beschwerlicher als er es nötig hätte.
Netzangriffe statt Powertennis
Im sonntägigen Finale gegen de Minaur wartete er auch mit einer für Rasentennis adäquaten Strategie auf. Statt auf Punktschläge von der Grundlinie oder auf seine gefürchteten Stoppbälle zu setzen, rückte er wiederholt ans Netz vor, um die Rallyes kurz zu halten. Alcaraz verzeichnete mit 15 Winnern sogar drei weniger als sein australisches Gegenüber, servierte aber sechs Asse mehr und wies ein höheres Percentage beim ersten Aufschlag auf.
Die zwei Breakchancen, die ihm sich boten, nütze der Schützling von Coach Juan Carlos Ferrero, was auf Gras essenziell ist. De Minaur hingegen vergab seine beiden Möglichkeiten, dem Gegner den Aufschlag abzunehmen aus. Und Alcaraz verließ sich wesentlich mehr auf seine Spieleröffnung, als dies auf roter Asche notwendig ist. Im ersten Durchgang wehrte er einen Breakball mit einem brachialen, 220 Stundenkilometer schnellen Ass ab. Im allerletzten Game schlug er er bei 0:30 vier Service-Winner in Folge, um das Match zu beenden.
Schnelle Anpassungsfähigkeit
„Es ist offensichtlich, dass ich mich mit Fortdauer des Turniers immer wohler gefühlt habe", meinte der seit Montag wieder an der Spitze des ATP-Rankings stehende Rechtshänder, der auch bei den All England Championships die Setzliste anführen wird.
Im Queen's Club konnte man jedenfalls dieses jugendliche Feuer in Alcaraz erkennen, der einmal mehr seine beeindruckende Fähigkeit demonstrierte, sich an die Herausforderungen anzupassen, die ein neuer Belag mit sich bringt.
Scouting bei Federer und Murray
Der elfmalige Titelgewinner auf der ATP-Tour will sich vor seinem Britannien-Trip auch Videos von Roger Federer und Andy Murray studiert haben, wie sich die beiden Grasvirtuosen auf dem grünen Naturboden bewegen. Und von Novak Djokovic? „Eigentlich weniger, weil Novak auf Rasen rutscht wie auf Sand. Das mache ich nicht."
Vergleichen mit dem Titelverteidiger an der Londoner Church Road kann sich Alcaraz aber ohnehin nicht entziehen. „Meine Chancen ändern sich auch als Nummer eins des Turniers nicht", sagt er. „Novak spielt ja trotzdem auch."
Selbstverständlich darf man weiterhin Großes von Carlos Alcaraz erwarten. Ob er schon jetzt der beste Spieler der Welt ist, ob die Wachablöse bereits erfolgt ist oder er bereit ist, Djokovic vom Thron zu stoßen? Unabhängig vom Turnierausgang in Wimbledon, sind wir wohl noch nicht ganz so weit. Und Alcaraz scheint das besser zu wissen als jeder andere.