Novak Djokovic: Nichts läuft mehr, Plan steht noch
Deportation aus Australien, Absturz im Ranking, wohl keine US Open - für Novak Djokovic, der 2021 noch den Kalender-Slam am Schläger hatte, läuft das aktuelle Tennisjahr äußerst frustrierend. Von seinem großen Traum wird der Serbe dennoch kaum abrücken. Zuzutrauen ist ihm das so schwierige Unterfangen allemal.
Dreimal nah dran
Die neue Saison hat dem Serben allerdings nur wenige Möglichkeiten geboten, seine ganzen Fähigkeiten auszureizen. Nachdem er im Vorjahr bei den US Open lediglich drei Sätze von der Erfüllung seines großen Traums entfernt gewesen war, stellen sich nun immer wieder Hürden in den Weg, für die er teils auch selbst verantwortlich ist.
Melbourne-Fiasko
Zunächst startete Djokovic ohne Marjan Vajda ins Jahr. Der Slowake hatte mit Ausnahme einer kurzen Schaffenspause 2017 bei jedem Major-Triumph des 35-Jährigen zum engsten Betreuerstab des Superstars gezählt. Und nach 16 gemeinsamen Jahren würde selbst der mental stabilste Sportler auf dem Planeten Nachwehen einer solchen Trennung verspüren.
Die Hardcourt-Saison fand mit dem Sunshine Double in Indian Wells und Miami ihre Fortsetzung, doch die US-Behörden ließen den 20-fachen Grand-Slam-Champion erst gar nicht in das Flugzeug steigen, da er die Corona-Bestimmungen nicht erfüllte. Als der Wahlmonegasse beim Masters in Monte Carlo endlich spielen durfte, machte sich die emotionale Ermüdung bei der Auftaktniederlage gegen die Nummer 46 Alejandro Davidovich Forkina deutlich bemerkbar, seine zweite aufeinanderfolgende gegen einen außerhalb der Top 40 positionierten Kontrahenten. Seit 2016 war Djokovic bei keinem ATP-Turnier mehr so früh ausgeschieden.
Blockade in Paris
Obwohl der Belgrader im Anschluss das Finale in seiner Heimatstadt und die Vorschlussrunde in Madrid erreichte, und dann sogar das Masters in Rom gewann, beklagte er eine fehlende Balance in Geist, Körper und Seele, was sich in einer ungewohnt defensiv und nervös wirkenden Spielweise manifestierte.
Diese Unsicherheit blieb auch in Roland Garros, wo er in der ersten Turnierwoche zwar fokussierter und belastbarer wirkte, Spuren eines gebeutelten Selbstvertrauens waren bei der Viertelfinalniederlage gegen den großen Publikumsliebling Rafael Nadal aber nicht zu übersehen.
– Coach Goran Ivanisevic suchte im Anschluss an die Niederlage nach einer Erklärung.
Wimbledon und danach
Zu den Rückschlägen des Djokers in diesem Jahr passt es nur allzu gut ins Bild, dass in Wimbledon diesmal keine Weltranglistenpunkte vergeben werden - eine Reaktion der Spielervereinigungen ATP und WTA auf die Weigerung der britischen Regierung, Profis aus Russland und Belarus einreisen zu lassen (tenniswetten.de berichtete). Damit wird der bereits auf Platz drei zurückgestufte Titelverteidiger, der am Montag die Auftakthürde Soon-Woo Kwon in vier Sätzen bewältigte, weiter an Ranking-Terrain verlieren.
Die finanziellen Einbußen wird Djokovic, der in seiner Profikarriere bisher allein an Preisgeld über 156 Millionen Dollar eingenommen hat, verkraften. Der Image-Schaden aber bleibt, inzwischen haben Peugeot und UKG, langjährige Partner des 87-fachen Turniersiegers, darauf verzichtet, ihre Sponsoringverträge mit dem weiterhin hartnäckigen Impgegner zu verlängern.
Eigene Kindheit und Familie als Antrieb
Zahlreiche Beobachter mögen vielleicht meinen, dass Novak Djokovic 2022 den Tiefpunkt seiner Tenniskarriere erreicht hat. Seine Reise einzig aus diesem engen Blickwinkel zu betrachten, wird seiner komplexen Lebensgeschichte allerdings nicht gerecht. Die Erfahrungen, als Kind in einem vom Krieg zerrütteten Serbien aufgewachsen zu sein und der Rückhalt seiner Familie bild zwei Säulen, die ihn seit Anbeginn im Wettkampf antreiben.
Absturz und Comeback
Nachdem er jahrelang erbittert versucht hatte, den kaum greifbaren Titel bei den French Open zu erlangen, konnte Djokovic 2016 in Paris als achter Spieler der Tennisgeschichte endlich den Karriere-Slam vollenden. Jahre später erzählte er von der mentalen Erschöpfung, die dieses Lebensziel verursacht hatte, und wie er just in dieser Phase von der Nummer eins auf Rang 22 im ATP-Computer purzelte, dem niedrigsten Ranking seit er 19 Jahre alt gewesen war.
– Djokovic rückblickend über diese Zeit seiner Karriere.
Nach einem holprigen Start in die Saison 2018 triumphierte Djokovic in jenem Jahr sowohl in Wimbledon als auch Flushing Meadows und avancierte zum ersten Spieler, der alle neun ATP-Masters-1000-Titel zumindest einmal gewinnen konnte. Und mit einer Serie von 22 aufeinanderfolgenden Matchsiegen kletterte der Superallrounder in nur fünf Monaten wieder zurück an die Spitze der Weltrangliste.
Missglückte Auftritte
Im ersten Corona-Jahr geriet Djokovic aber neuerlich in die Schlagzeilen abseits der Sportseiten. Zwar holte er sich noch vor Ausbruch der Pandemie den Titel bei den Australian Open, doch bleibt von 2020 vor allem die unglückliche Adria Tour in Erinnerung, bei der ohne jegliche Abstandsregeln gefeiert wurde, sowie der bedauerliche Vorfall bei den US Open, als der Turnierfavorit nach einem unkontrollierten Wutausbruch eine Linienrichterin den Ball an den Hals schmetterte und folgerichtig disqualifiziert wurde.
Rang Djokovic wenige Monate später in Melbourne noch Daniil Medvedev nieder, um seinen insgesamt neunten Triumph beim Happy Slam zu zelebrieren, sollte er letztlich in New York sein größtes Match 2021 gegen den Russen in glatten drei Sätzen verlieren. Dazwischen lag noch der olympische Kollaps von Tokio, als er gegen Alexander Zverev eine Satz- und Break-Führung aus der Hand gab und seine langersehnten Goldambitionen neuerlich begraben musste.
Kalender-Slam noch im Visier
Mehr als einmal wurde Djokovic von seinen Coaches als Genie gepriesen, inklusive seiner ersten Trainerin Jelena Gencic. Legen Spielintelligenz, Zähigkeit, Akribie und Leidenschaft tatsächlich diesen Schluss nahe, so kann man auch die Meinung vertreten, dass der Fokus des sechsfachen Wimbledon-Champions mittlerweile auf einen höheren Preis gerichtet ist als den Kalender-Slam: Quality Time mit der Familie.
„Ich fühle mich dankbar und gesegnet, diese Möglichkeit erhalten zu haben", sagte Djokovic nach seinem Sieg beim Masters in Paris-Bercy am Ende der vergangenen Saison.
In Anbetracht der ständigen Kämpfe und Rückschläge, die Djokovic im Verlauf seines Lebens erfahren musste und wie er seine inneren Dämonen und reellen Kontrahenten besiegte, sollte man ihn jedenfalls 2023 im Rennen um die größte Leistung im Tennissport wieder auf der Rechnung haben.